Die erste Dienerin der Königin

2.

Erstaunt hielt Eleane inne, sah noch einmal auf das Pergament in ihren Händen und suchte weiter. Es musste eine Erklärung für diese Verwirrung geben.

Hinter der dritten Schriftrolle der Melodie, welche die glückliche Herrschaft der reinen Königinnen beschrieb, folgte eine vierte, ihr unbekannte Melodie. Sie begann als Fortsetzung und versprach das Ende der reinen Herrschaft zu beschreiben. „Vom Verlust der Eisrose“ lautete die Überschrift.

Allgemein war dieser Verlust unter den Eiselfen bekannt. Die Rose ging verloren und die Macht der Königinnen von Schandaar brach. Es starb die letzte reine Köngin und das neue Geschlecht der Herrscherinnen von Schandaar bestieg den Thron aus Eis und Licht.

Diese Königin war Eleive gewesen, jene lichtgleiche Herrscherin, der noch vor wenigen Minuten Eleane die Füße gewaschen hatte. Ihre verehrte Herrin und Königin von Schandaar. Die Haut wie Alabaster, die Haare gleich fließendem Perlmutt, ihre Augen so blau und tief wie die See. Eine Königin die an Schönheit und Reinheit ihre Vorgängerinnen mit Leichtigkeit erreichte.

Neugierig las Eleane weiter.

Es war eine Fortsetzung, gedichtet von einem modernen Barden, der sich als Nachfahr des alten Barden Elgenar Lichtweiß bezeichnete. Er war ein Sohn des Clans Lichtweiß, ein angesehener Barde, der jedoch vor 100 Jahren verschwunden war. Niemand wusste, was aus ihm geworden war, doch nachdem Eleane die Worte gelesen hatte, die seine Melodie begleiteten, wusste sie um die Umstände seines Verschwindens. Es konnte keinen Zweifel geben, dass er getötet war oder es vorgezogen hatte, nachdem er sein Wissen in Worte gefasst hatte, doch lieber zu verschwinden.

3125 Jahre erstrahlte die Perle im Eis. Hell und weiß im klaren Licht der Idee sollte niemand die Herrschaft der einen Königinnen brechen. Doch es geschah, was geschah und gestohlen ward die Rose im Eis. Soleis war die letzte der reinen Königinnen. Das ewige Licht erstrahlte an ihrer Seite. Die Eisrose wuchs zu ihren Füßen, als Zeichen und Sinnbild ihrer Macht.

Ewiges Licht, ewige Reinheit, nie sollte die reine Herrschaft gebrochen sein.

Ewiges Licht ward verdunkelt, ewige Reinheit verloren. So brach die Herrschaft als fremde Hände griffen nach der Rose aus Eis. Gestohlen ward die Rose so verfiel die Königin und besiegt war sie von der Dunkelheit.

Dies ist die ewige Melodie, welche enden soll in Finsternis, im Dunkel der neuen Königin von Schandaar.

Dies ist das Ende der ewigen Melodie.

So war es Liebe, war es die Lust welche den Elf bewog das Heiligtum von Schandaar zu stehlen. So nahm er die Rose und gab sie seiner Liebe, dass sie den Thron besteige.

So ward die letzte der reinen Königinnen geschlagen und gefangen.

So wurde beides hinweggeschafft. Die Rose in die Hände der Trolle, die Königin unter Felsen aus Eis.

Und so sitzt auf dem Throne von Schandaar die falsche Königin, nicht aus dem Licht reinen Denkens doch aus dem Dunkel der Lust und Begirde.“

Niemand durfte dies lesen. Das erkannte Eleane noch bevor sie die letzten Worte überflogen hatte. Dies waren die Worte eines Getreuen der reinen Königinnen. Sollte die letzte dieser Königinnen noch leben, sollte die Rose aus Eis noch zu finden sein. Keines durfte bekannt werden. Sie würden Eleive ihres Thrones berauben. Sie würde ihre wunderschöne Königin der kalten Gnade der letzten der reinen Königinnen ausliefern. Niemals durfte das geschehen.

Die Schriftrolle in der Hand trat Eleane vor die Tür der Bücherhalle. Hier, im Freien weit über den Dächern von Schandaar, brannte auf der einen Seite ein Feuer, genau gegenüber dem Wasserbecken.

Ohne zu zögern trat Eleane an das Feuerbecken, warf die Schriftrolle hinein und sah zu wie langsam aber unaufhaltsam Pergament und weißlackiertes Holz zu Asche verbrannten.

Es war segensreiches Feuer. Was Trolle und Menschensklaven läuterte, konnte ihrer verehrten Herrin die Macht erhalten.

Mit einem Gefühl tiefster Erleichterung kehrte Eleane zurück, setzte sich an den Tisch und fuhr fort zu lesen.

Das Geheimnis um die zwei Namen lüftete sich, als Eleane sich die Ahnentafeln der beiden Familien geben ließ. Es war denkbar einfach, geradezu simpel. Elgenar Lahendeth war das dritte Kind von Iref Lahendeth. Somit war er ein Sohn der Familie Lahendeth die mit recht stolz sein konnte auf dieses Erbe.

Als Barde gewann er an hohem Ansehen, und so hatte er in eine schon damals hoch angesehene Familie eingeheiratet und wurde zu Elgenar Lichtweiß. Die Familie Lichtweiß hatte immer treu zu den reinen Königinnen gestanden. Die ersten Barden von Schandaar entstammten der Linie der Lichtweiß, und wenn sie ihr nicht entstammten, so wurden sie aufgenommen in diese alte, bedeutende Sippe. So stand über der alten Schriftrolle der Name der Familie Lichtweiß und Elgenar Lichtweiß der Barde wurde zu einem der Ahnenväter der Familie Lichtweiß.

Den Ruhm und die Bedeutung aber würden sich die Lichtweiß mit der Familie Lahendeth teilen müssen.

Einiges würde sich ändern, dachte Eleane, als sie die Rollen und das Pergament der eifrigen jungen Elfe zurück gab. Doch würde auch einiges bleiben wie es war. Ihre Königin würde sie vor Schaden bewaren. Dies war ihre Aufgabe als erste Vertraute der Königin von Schandaar.

War es das?

Mit offenen Augen starrte Eleane in dieser Nacht in die Dunkelheit um ihr Bett herum. Ihre Kammer lag oben, angrenzend an die Gemächer die Königin. Sie selbst hatte es so gewählt. So war sie in der Nähe ihrer verehrten Herrin, falls diese sie brauchte. Der Königin war dies recht gewesen. Sie schien die Fürsorge ihrer Vertrauten durchaus zu schätzen.

Die Nähe ihrer Königin. Diese tiefe Verehrung, wann immer Eleane die Herrin von Schandaar ansah. War dies wirklich nur die reine Treue zur wahren Königin von Schandaar?

Der Stadt und ihrer wahren Königin hatte sie Treue geschworen, dessen wurde Eleane nun gewahr. Sie aber hatte diesen Schwur gebrochen. Eleive war nicht die wahre Königin. Die wahren Königin war die letzte der reinen Königinnen und nur deren Verschwinden hatte Eleive es zu verdanken, dass sie nun auf dem Thron aus Eis und Licht saß.

Es hätte einer Untersuchung bedurft. Sie hätte den Fall den Barden von Schandaar übergeben müssen und den Weisen des Lichtordens. Sie hätten Krieger und Barden ausschicken müssen, auf der Suche nach der Eisrose und der wahren Königin.

Sie konnte all dies noch immer veranlassen, doch sie würde es nicht tun.

Dies wurde ihr in dieser Nacht, in der sie im Dunkeln lag, klar.

Es war nicht die Verehrung des Lichtes. Es war nicht die kühle, erhabene Hingabe an die Königin von Schandaar, die sie für Eleive empfand. Es war tiefe, glühende und leidenschaftliche Liebe und Begirde. Sie suchte ihre Nähe, wusch ihre Füße und sehnte herbei, was ihr Herz nicht ersehnen durfte. Dies war die Liebe einer Frau zu Fleisch und einem schönen Antlitz.

Lautlos erhob sich Eleane von ihrem Lager, entzündete nur ein kleines Licht und begann ihre Laute, Kleidung und ein paar Habseeligkeiten zusammenzusuchen.

Sie würde keinen Sklaven schicken oder gar mit sich nehmen. Sie würde nur gehen.

Mit einer Tasche in der Hand verließ sie ihren Raum, durchquerte die Räume der Königin und begab sich die Treppe hinunter zu den Stallungen. Hier suchte sie sich ein Hunderudel heraus, ohne einen der Sklaven zu wecken, spannte die Tiere vor einen der schlanken, schnellen Schlitten, legte ihr Instrument und die Tasche hinter den Sitz und trieb die Tiere zur Eile an, fort von der Stadt.

Sie würde hinausgehen ins kalte Eis immer weiter nach Süden. Sie hatte sich befleckt, hatte Gefühlen den Vorrang gegeben, war nicht mehr würdig der Stadt, die sie so tief liebte, zu dienen. Zuerst musste sie ihre Gefühle besiegen, dann würde sie zurückkehren in das ewige Eis von Schandaar, um dort ihrer Pflicht als Vertraute der wahren Königin zu genügen, frei von Gefühlen die zu Untreue und Verrat führten.

Nur die wahre, reine Idee, der hehre Verstand sollten sie noch leiten. War ihr dies gelungen, so würde sie heimkehren nach Schandaar.

Als am Morgen ein hellfelliges Yetimädchen die Kammer der Vertrauten der Königin betrat war die Herrin Eleane längst gegangen. Auf dem Tisch fand das Sklavenmädchen einen Zettel, den sie sofort ihrer Königin überbrachte.

Ich gehe, denn Gefühle dürfen niemals die Beweggründe einer Eiselfe beeinflussen, auch nicht wenn sie meiner so wunderschönen und edlen Königin gelten. Ich kehre wieder, wenn ich gefunden habe, wonach ich suche: Die reine Idee, den hehren Verstand.

In tiefer Liebe und Ergebenheit eurer Majestät,

Eleane Silberschnee